Alles nur im Kopf? Was hat Ernährung mit unserem Hirn zu tun?
Dass der Darm möglicherweise Einfluss auf unser Gehirn haben könnte, habe ich zum ersten Mal in Giulia Enders ‚Darm mit Charme‘ gelesen. Da ich zu dieser Zeit schon Kognitionswissenschaften, und damit auch die chemischen und neurologischen Grundlagen des menschlichen Gehirns studierte, schien mir der Gedanke gar nicht weit hergeholt. Seitdem begegnet mir das Thema an jeder Ecke. Selbst in den Philosophie-Vorlesungen, die ich besuchte, wurde die Frage nach der Verbindung zwischen Körper und Geist unter dem Titel ‚body-mind-dualism‘ diskutiert.
Mittlerweile weiß ich, dass die Verbindung zwischen Gehirn und Darm noch viel stärker und facettenreicher ist, als ich ursprünglich glaubte. Es gibt verschiedene Aspekte, die hier eine Rolle spielen und der Einfluss von Hirn und Darm ist auch keine Einbahnstraße, sondern funktioniert in beide Richtungen. Das merkt man zum Beispiel daran, dass viele Frauen (mich eingeschlossen) Verstopfung bekommen, wenn sie unterwegs sind oder dass manch einer aggressiv wird, sobald sich der Hunger meldet. Antidepressiva werden auch für Darmkrankheiten verabreicht, vor der Prüfung haben wir Durchfall und Schokolade macht uns glücklich. Auf der Seite der Initiative Gehirnforschung Steiermark habe ich eine schöne Grafik gefunden, die die vielen Arten illustriert, wie Hirn und Darm miteinander interagieren:
The other 90 percent
Wir bestehen zu einem großen Teil aus Bakterien. Wenigstens ein bis zwei Kilo dieser kleinen Mitbewohner tragen wir in unserem Darm mit uns herum. Wenn man allerdings die Menge der Zellen berechnet, die unseren Organismus ausmachen, so zeigt sich noch ein ganz anderes Bild: Die gängige Meinung war bisher, dass 90% aller Zellen in unserem Körper Bakterien sind, da diese viel kleiner, dafür aber viel zahlreicher sind. Erst kürzlich hat man noch mal nachgezählt und festgestellt, dass das Verhältnis Körperzellen/Bakterienzellen etwa 1:1 sein wird (wie zur Hölle man das berechnen soll, ist mir eh ein Rätsel).
Wie dem auch sei, die Bakterien, die in uns hausen, waren lange Zeit für die Wissenschaft nur insofern interessant, als dass sie manchmal Probleme bereiten können, wenn sich pathogene Keime unter ihnen befinden. Mehr und mehr Wissenschaftler beschäftigen sich heute aber mit den vielen lebenswichtigen Funktionen, die diese Tierchen in unserem Organismus haben. Bakterien leben von dem, was wir essen, und zerlegen die Nahrung freundlicherweise in Teilchen, die von unserem Körper aufgenommen werden können. Dabei entstehen haufenweise Nebenprodukte, die längst noch nicht alle erforscht sind. Wir beginnen gerade damit, an der Oberfläche zu kratzen, aber bisher kennt man noch nicht einmal alle Bakterienstämme, die sich in unseren Gedärmen tummeln. Manche dieser Produkte sind jedenfalls sehr wichtig für uns, das wären dann die Makronährstoffe (Fette, Proteine, Kohlenhydrate) und Mikronährstoffe (Vitamine und Mineralstoffe), aber manche können auch ungünstig sein. So verstoffwechseln Clostridien zum Beispiel Glukose zu Propionsäure, welches in Nagern autismusähnliche Symptome auslöst (siehe hier, hier und hier, außerdem in diesem Arte-Beitrag zum Thema Autismus (sehr empfehlenswert)).
Die genauen Mechanismen, durch die Bakterien mit unserem Hirn in Kontakt stehen, sind noch nicht bekannt, aber fest steht, dass dieser Kontakt sehr rege ist. Verschiedene Studien mit Mäusen haben gezeigt, dass das Mikrobiom einen enormen Einfluss auf das Verhalten von Nagern hat und sich Angst und Despressionen in Mäusen zeigen, deren Mikrobiom gestört wird. Solche Versuche werden zum Beispiel mit sogenannten Knock-out-Mäusen gemacht, die völlig keimfrei und daher ohne Mikrobiom aufwachsen. Es ist denkbar, dass dieser Einfluss sogar noch viel weiter geht: Es könnte möglich sein, dass, unsere Kleinstmitbewohner uns befehlen, was wir essen wollen oder bestimmen, ob wir risikofreudig oder sozial sind. Leider steht die Forschung hier noch ganz am Anfang, Zumindest sind wir quasi live dabei, wie dieses spannende Feld beackert wird!
Leaky gut und cranky brain
Ein weiterer Weg über den unsere Nahrung unser Hirn beeinflussen kann, ist die autoimmune Route. In all den Büchern, Blogs und Podcasts, die ich zur Zeit lese und höre, werden einige Krankheiten immer wieder im gleichen Atemzug genannt: Migräne, Multiple Sklerose, Autismus, ADHS, Depressionen, Parkinson, Alzheimer – gerade so als handele es sich nur um Facetten derselben Erkrankung. Tatsächlich werden alle diese Krankheiten im Gehirn verortet und einige davon gelten entweder schon als Autoimmunerkrankung oder machen sich gerade einen Ruf als solche.
Aber wie kommen diese Erkrankungen zustande? (Sehr) kurz gefasst ist der Weg der Folgende: Irgendetwas zerstört deine Darmschleimhaut, sodass große Moleküle (Aminosäuren), die normalerweise draußen gehalten werden, ungehindert in deinen Körper eindringen können. Diesen Mechanismus nennt man ‚Leaky Gut‘ oder ‚erhöhte intestinale Permeabilität‘. Das Immunsystem, das auf der anderen Seite Schmiere steht, geht sofort an die Waffen und produziert Antikörper am Fließband, um den Eindringling niederzumetzeln. Da ziemlich viele Aminosäuren relativ gleich aussehen und unser Körper auch aus Aminosäuren gebaut ist, kann es jetzt aber passieren (wenn noch ein bisschen Genetik und Pech hinzukommen), dass das Immunsystem den Gegner mit dem eigenen Körper verwechselt und gegen Letzteren in die Schlacht zieht. Je nach Aminosäure können es alle möglichen Körperzellen sein, die dabei in Mitleidenschaft gezogen werden, auch solche, die im Hirn beheimatet sind. Bei Multipler Sklerose sind es die Myelinschichten der Hirnzellen, bei Hashimoto ist es die Schilddrüse, usw..
Da man an seiner genetischen Disposition nicht so viel ändern kann, ist die einzige sinnvolle Frage, wie man verhindern kann, dass die Darmschleimhaut zerstört wird. Auch hier haben die Darmbakterien vermutlich noch einmal ihren Auftritt, aber es gibt auch andere Faktoren, die besser erforscht sind. Alkohol hat zum Beispiel die Fähigkeit, die Darmbarriere zu öffnen, was jeder weiß, der schon einmal ‚Bierschiss‘ hatte. Gluten ist ein weiterer Nemesis des Darms, da Gluten die Produktion von Zonulin antreibt, welches die Öffnung der Darmbarriere reguliert. Sogar nicht-steroidale-Entzündungshemmer wie Ibuprofen können furchtbaren Schaden anrichten.
Zu viel des Schlechten, zu wenig des Guten
Und dann gibt es natürlich noch all die Klassiker, die ohnehin schon länger bekannt sind. Manche Ärzte sind der Meinung, dass der moderne (computerisierte) Mensch generell im Winter Vitamin D (übrigens in Wirklichkeit ein Hormon, kein Vitamin) supplementieren sollte, da er sonst dazu neigt, Depressionen zu entwickeln. Vitamin B12 ist ein anderes dieser Vitamine, die bei Mangel schlechte Laune machen können. Genauso gibt es Stoffe, die sich negativ auf unser Hirn und unsere Stimmung auswirken können. Vermutlich gibt es hunderte, wenn nicht tausende solcher Stoffe, die alle zusammenspielen, sich gegenseitig beeinflussen und die noch Jahrzehnte (bestenfalls) brauchen werden, um in Gänze erforscht zu sein.
Was wir in der Zwischenzeit tun können, ist vielleicht nur, uns selbst als Forscher zu begreifen und gleichzeitig als Versuchskaninchen. Eine Menge Leute da draußen haben schon mit Erfolg durch Ernährung & Co ihre physische und psychische Gesundheit beeinflusst und denen kann man es gleich tun. Indizien gibt es zu Hauf, wir müssen ’nur‘ noch die Puzzleteile aufsammeln und loslegen..
Zum Weiterlesen:
Kelly Brogan – Die Wahrheit über weibliche Depression
Die Autorin ist Neurowissenschaftlerin und Psychologin und schreibt darüber, dass Depressionen oft eine körperliche Ursache (Ernährung, Stress) haben und sich ohne Medikamente behandeln lassen.
Terry Wahls – Multiple Sklerose erfolgreich behandeln mit dem Paläo-Programm
Terry Wahls ist Ärztin und leidet selbst an MS. Sie schildert in ihrem Buch den Zusammenhang zwischen Nahrung, Lebensstil und den Prozessen, die bei MS gestört sind. Sie hat sich mit ihrem angepassten Paläo-Programm selbst von ihren MS-Symptomen geheilt.
Interessanter Artikel in der New York Times über die Rolle der Bakterien (englisch):
http://www.nytimes.com/2015/06/28/magazine/can-the-bacteria-in-your-gut-explain-your-mood.html?_r=0
Ein Artikel aus dem Spiegel über die Darm-Hirn-Verbindung
http://www.spiegel.de/spiegelwissen/neue-forschung-wie-der-darm-das-wohlbefinden-beeinflusst-a-934518.html